Harry drehte wie jeden Abend seine Runden. Die Welt um ihn herum schien in dunklen Schlaf
gehüllt, nur er war als wacher Beobachter unterwegs. Er konnte es nicht ganz benennen, doch auf eine unbeschreibliche Art und Weise fühlte er sich niedergeschlagen. Leise verhallte sein Seufzen in der Umgebung. Was war bloß mit ihm los? Hatte er zu seinem letzten Essen ein zu großes Glas Melancholie getrunken?
Die Dunkelheit wurde immer einnehmender und Harry achtete nicht auf den Weg. Er ließ sich treiben und war ganz bei seinen kreisenden Gedanken. Während er so grübelte, tat sich vor ihm ein schummrig beleuchtetes Wohnhaus auf. Er verharrte für einen Moment. Sollte er …? Nein, er hatte noch nie einfach so ein fremdes Grundstück betreten. Aber heute …?
Harry folgte seinem Impuls. Elegant wand er sich durch das Fenster, das einen spaltbreit offen stand und sah sich einen kurzen Augenblick um. Es war schwierig, Details zu erkennen, doch seine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Auf einem Tisch konnte er eine Obstschale erkennen, in der nichts weiter als eine tückische Banane lag. Tückisch deshalb, weil sie unaufhaltsam diese furchtbaren Fruchtfliegen anlockte. Lästige Biester. In einer Ecke weiter hinten im Raum sah Harry eine Truhe. Neugierig näherte er sich ihr. Sie war aufgeklappt und gefüllt mit zahlreichen Fotos und weiterem Krimskrams. Schmuckstücke, kleine Anhänger, Figuren, Tickets … Offensichtlich wurden hier allerlei Andenken von vergangenen Reisen aus den unterschiedlichsten Ländern aufbewahrt.
Die Fotos zeigten ein lächelndes Pärchen, mal braun gebrannt in karibischer Umgebung und mal dick eingemummelt in Mütze und Schal mit einer malerischen Winterlandschaft im Hintergrund. Harry wurde erneut von diesem ziehenden Schmerz durchzuckt, den er bereits vorhin verspürt hatte.
Nachdenklich ließ er die Truhe hinter sich. Er bemerkte, dass unter ihm ein edler Dielenboden glänzte. Dieser war so gut gepflegt, dass Harry seine Umrisse erkannte, die sich im Boden widerspiegelten. Ihm fiel auf, dass er nicht besonders groß war, doch sein Körper und seine Fühler waren kräftig und gut gebaut. An seinem Hinterteil leuchtete das namensgebenden Wiedererkennungsmerkmal, eine Art kleines Lämpchen, das ihn unmissverständlich zu einem Glühwürmchen machte. Er genoss die Betrachtung des reflektierten Lichts im Dielenboden und in den Fensterscheiben, bis ihm, wie aus dem Nichts, auffiel, was ihn heute bewegte. Er hatte die Fähigkeit, Licht in die Dunkelheit zu bringen und somit schenkte er Dingen die Aufmerksamkeit, die ansonsten schnell im Verborgenen blieben.
Es war ihm deutlicher als je zuvor aufgefallen, wie stark seine Umgebung sich mit jedem Tag veränderte. Schleichend aber stetig. Seine nächtlichen Ausflüge wurden trister und stiller. Einsamer. So, als wurde die Natur immer weiter zurückgedrängt und in ihre Schranken gewiesen. Nichts war selbstverständlich oder gar für immer. Die Welt wankte. Als er soeben die Urlaubsfotos gesehen hatte, verfestigte sich das ungute Gefühl, dass diese Welt, wie er sie kannte, nicht ewig so bestehen würde. Das also löste Harrys Traurigkeit aus! Weltschmerz. Nachdem er diese Erkenntnis halbwegs verdaut hatte, verließ er das Haus und flog mit neuer Energie in die Nacht. Es war nicht verkehrt, diesen Schmerz zu spüren. Für ihn wäre es falsch, diesen zu verdrängen oder zu ignorieren. Doch jetzt war nicht die Zeit um traurig zu sein. Und wer sich nun fragt, was ein kleines, melancholisches Glühwürmchen schon ausrichten kann: unseren Blick auf die Stellen lenken, die anderen Falls schnell übersehen werden. Harry wollte, dass alle hinsahen, versuchten zu verstehen, wie er, ein klein bisschen bedröppelt wurden, um dann ein inneres Feuer zu entfachen, das Veränderung suchte. Stolz verschwand er in die Nacht.
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