Es hatte doch alles so harmlos begonnen. Darüber hinaus konnte sie nichtmal etwas für ihre missliche Lage, also waren im Grunde genommen nicht höhere Mächte dafür verantwortlich, dass der Name Anna Brathuhn schwarz auf weiß in ihrer Geburtsurkunde festgelegt war und sie somit mehr oder weniger dazu gezwungen wurde, etwas Ansehnliches aus dieser unglücklichen Situation zu zaubern? Kinder konnten verdammt grausam sein, das hatte sie damals, als sie noch zur Schule ging, zur Genüge zu spüren bekommen. In den Pausen hatten einige ihrer Mitschüler fiese Reime aus ihrem Namen gebastelt, sie durch die Gegend geschubst, ausgeschlossen und eines Tages wurde sie tatsächlich mit einer Art Aufschnitt beworfen, sodass sie es meistens bevorzugte, allein in einer ruhigen Ecke ihre Schwarzbrotstulle zu verzehren und dabei zu hoffen, dass diese grausame Episode ihres Lebens bald vorbei wäre. Glücklicherweise währte die Schulzeit nicht ewig und als sie und ihre Klassenkameraden älter, vielleicht auch reifer wurden, ließen die Hänseleien allmählich nach, doch es änderte nichts daran, dass sie sich bis zum Ende ausgeschlossen und nicht akzeptiert gefühlt hatte. Diese schwierige Phase war inzwischen jedoch überwunden und lag einige Jahre zurück, sie hatte zusätzlich ihre Ausbildung erfolgreich beendet und stand kurz davor, einen Job in der Verwaltung zu beginnen. Bei diesem Gedanken, endlich einen kompletten Neustart zu wagen, hüpfte ihr Herz, da sie nun die Chance bekam noch einmal ganz von vorne anzufangen. Dementsprechend stellte sie sich im Voraus die Frage, ob diese Erwachsenen, ihre zukünftigen Kollegen, ihr tatsächlich unvoreingenommener begegnen würden als ihre ehemaligen Mitschüler und ob dieser frische Lebensabschnitt wirklich Verbesserungen oder Vorteile mit sich brächte, wenn unter diesen Umständen allenfalls nur noch hinter ihrem Rücken über sie gelacht und gelästert wurde. Sollte sie zukünftig überhaupt noch dieses Risiko eingehen, verspottet zu werden, wenn sie generell unbekannte Leute kennenlernte? Nein, sie entschied sich kurzerhand dazu, ihren Nachnamen ab diesem Zeitpunkt BraTHUN, anders zusammengezogen und neu betont, auszusprechen und zusätzlich in geschriebener Ausführung das zweite „H“ zu ignorieren und wegzulassen. Dieser simple und dennoch effektive Trick hatte erstaunlich gut geklappt, besser sogar, als sie es sich in ihren Vorstellungen ausgemalt hatte. Zuerst hatte sie sich gefühlt, als würde sie eine Lüge erzählen und verbreiten, doch eigentlich konnte es sich nicht um eine derart verächtliche Untat handeln, da sie lediglich eine Kleinigkeit modifizierte, um sich den Start in das Arbeitsleben zu erleichtern. Als nach den ersten Malen des Anwendens und Ausprobierens das berauschende Prickeln der Aufregung, das bei besagter Handlung ihren gesamten Körper erfüllte und sie mit Adrenalin versorgte, immer mehr abebbte, ehe sie es gar nicht mehr zu spüren vermochte, erschien es ihr reizvoll, auch ihren Vornamen einer hübschen Renovierung zu unterziehen. Anna, das war so schrecklich normal und durchschnittlich, manche Menschen verstanden beim ersten Zuhören auch Hannah oder nannten sie Anne, so, als wohnte diesem Namen derselbe Effekt inne, der bei Teflon Bratpfannen zum Tragen kam: Nichts des Ursprünglichen blieb an den jeweiligen Schichten haften, nicht an der Pfanne und ebenso wenig an den für die Wiedergabe eingegangener Informationen verantwortlichen Synapsen und Hirnwindungen der Menschen. Dementsprechend mussten sich diese Personen in ihrer Notsituation selbst behelfen und reimten sich etwas aus den einzelnen Stücken ihrer Erinnerung zusammen. Die Erfahrung hatte ihr gezeigt, dass Anna fast schon zu schlicht, zu austauschbar war, als dass andere es sich auf Anhieb merken konnten. Sie hatte damit abgeschlossen, ein Irrlicht zu sein, das in einer Menge an Menschen ziellos umherschwirrte und wenn überhaupt nur für einen kurzen Augenblick allenfalls gesehen oder am Rande bemerkt wurde, nie aber wahrgenommen oder erkannt wurde, als das, was es wirklich war. Stattdessen wollte sie einen positiven Eindruck bei ihren Mitmenschen hinterlassen, ihnen im Gedächtnis bleiben und vielleicht sogar als feurige Explosion der Faszination durch ihre Köpfe tanzen. Anna musste weichen, das stand fest und sie hätte es sich leicht machen können, hätte sie das ausgelassene H ihres einstigen Huhns eingesackt und sich in eine Hanna verwandelt, doch sie empfand diese Lösung nicht als ausreichend oder überzeugend genug, es musste eine klare Trennung zwischen ihrer einstigen Vergangenheit hergestellt werden, also beschloss sie, sich einer namentlichen Kompletterneuerung zu unterziehen und gleichzeitig das unzureichende BraTHUN loszuwerden. Es war ein trostloser, regnerischer Nachmittag, als sie an ihrem Küchentisch saß und ihr die zahlreichen bunten Illustrierten in ihrem Zeitungsständer auffielen, die sie sogleich vor sich ausbreitete, in ihnen herumblätterte und auf die teilweise stark verzierten Buchstaben Acht gab, die darin abgedruckt waren. Die größten und schönsten Exemplare dieser schnitt sie aus, sodass sie bereits nach einer Weile eine ordentliche Anzahl Schnipsel vor sich liegen hatte, die sie aneinanderreihte, wieder austauschte und auf diese Weise immer wieder hin und herschob. Es mussten Stunden vergangen sein, bis der Name Penelope Amira von Litzenstein aus den ausgeschnittenen Buchstaben wie die eines Erpresserschreibens ihren Küchentisch zierte und sie tief in sich spüren konnte, dass ihr neues Ich geboren war. Hätte sie es selbst nicht mit Haut und Haaren erlebt, hätte sie es rein aus Erzählungen nicht geglaubt, dass ein neuer Name so viel mehr verändern konnte, als man annehmen mochte. Da sie sich inzwischen schon ganz anders fühlte, wollte sie als nächsten Schritt auch ihr äußeres Erscheinungsbild einem Wandel unterziehen, um die Stimmigkeit beider Welten nicht zu gefährden. Gedacht, getan. Sie legte sich einen neuen Haarschnitt zu, passte diesem ebenfalls ihr Make-up an und auch ihr Kleidungsstil wurde exquisiter, schließlich war sie nun eine von Litzenstein, also war es mehr als angebracht, wenn sie fortan die Gesellschaft der Haute Couture und edlen Marken für sich entdeckte. Da sie allerdings leider sowohl beim Besuch des Frisörs als auch beim Erwerb ihrer neuen dekorativen Gesichtskosmetik einen nicht zu verachtenden Anteil ihres monatlich zur Verfügung stehenden Gehaltes aufgebraucht hatte, kam es ihr beim Kauf ihrer neuen Garderobe sehr gelegen, dass eine automatisch von der Kreditkarte abgebuchte Ratenzahlung als Variante zur Begleichung der Kosten möglich war. Drum machte sie sich keinen Kopf mehr, die kleinen Kleckerbeträge würde sie mit Leichtigkeit abbezahlen können und sie war der festen Überzeugung, dass die Renaissance ihrer Selbst, diese Penelope Amira von Litzenstein, sie noch zu den formidabelsten Orten und Gelegenheiten führen würde und sich diese anfängliche Investition noch auszahlen würde. Mit etlichen Tüten beladen und einem breiten Grinsen im Gesicht stolzierte sie fröhlich zurück zu ihrer Wohnung, schaffte dort im Badezimmer und in ihrem Kleiderschrank Platz für ihre neuen Errungenschaften und posierte stolz und erhaben in den schicksten Kleidern, Schuhen und Jäckchen vor ihrem Ganzkörperspiegel. Es verging einige Zeit, in der sie tagsüber unter der Woche noch ganz normal als Anna BraTHUN ihrem Job in der Verwaltung nachging und sich erst in ihrer Freizeit in die unverwechselbare, unvergleichliche Penelope Amira von Litzenstein verwandelte, die in noblen Hotelbars oder Cocktaillounges die ihr zustehende Aufmerksamkeit auf sich zog. Hierfür suchte sie immerzu verschiedene Hotels aus, da ihr leider das nötige Kleingeld ausgegangen war und sie sich ihre Drinks auf eine rein spontan ausgedachte Zimmernummer schreiben ließ. Der ein oder andere Cosmopolitan oder Gin Fizz mehr würde schon niemandem auffallen. Irgendwann aber stellte sie fest, dass ihr dieses Doppelleben auf die Nerven ging und dass sie ausschließlich dem Alltag einer von Litzenstein nachgehen wollte. Vorerst meldete sie sich bei der Arbeit krank, sodass sie nun auch vormittags die schönsten Kleider in die edelsten Etablissements entführen konnte. Da jedoch im letzten Geschäft ihre Kreditkarte nicht mehr akzeptiert wurde, bestellte sie sich allerhand Waren aus dem Internet und wählte als Zahlungsmethode den Versand einer Rechnung an die Lieferadresse. Von nun an warf sie sich jedes Mal in Schale, wenn sie vor die Tür trat und man hätte meinen können, dass sie tatsächlich aus einem Adelshaus stammte. Sie besuchte Vernissagen, das Ballett, Weinproben, Galen und einmal sogar das Pferderennen, gab bei Veranstaltungen dieser Art meistens an, auf der Gästeliste zu stehen und dass es eine Unverschämtheit sei, dass man sie vergessen habe, und je vehementer und empörter sie dies tat, desto schneller ließ man sie Eintritt gewähren. Als schillernde Lichtgestalt schwirrte sie durch all diese Foyers, Tribünen und Logen, doch war sie die meiste Zeit trotzdem allein und für sich, umgeben von Unbekannten und Fremden, schließlich musste sie vorsichtig und sensibel mit ihrer wahren Identität umgehen, die trotz allem noch tief in ihr schlummerte und an die sie sich selbst auch meist erst dann wieder erinnerte, wenn sie zurück in ihre Wohnung kam und ein weiterer Stapel unbezahlter Rechnungen und unfreundlicher Mahnungen durch ihren Briefschlitz geflattert war und sie als einziges begrüßte. Eine Kündigung der Arbeit hatte sie auch einst zwischen diesen Papieren gefunden, ihr allerdings keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, dieses Kapitel war für sie bereits Geschichte. Nichtsdestotrotz musste sie diese unbequemen Angelegenheiten irgendwie aus dem Weg schaffen und da sie sie nicht einfach abbezahlen konnte, kam ihr die Idee, den Onlineshops zu melden, dass ihre georderten Artikel niemals bei ihr zu Hause angekommen seien und sie daher auch die Rechnungen nicht begleichen konnte. Nein, sie wollte nicht, dass die Ware ihr nochmals zugeschickt wurde, die Schuhe waren für eine Hochzeit und das Kleid für einen Ball gedacht, dafür sei es nun leider zu spät. Beim ersten Anruf dieser Art spürte sie deutlich, wie ihre Hand zitterte und ihre Stimme verkündete die Nachricht mit einer verräterischen Brüchigkeit, sodass sie bereits dachte, das Unterfangen sei gescheitert, doch man glaubte ihr und es schien, als seien solche Geschehnisse kein Einzelfall. Trotzdem legte sie sich zur Sicherheit für die Zukunft mehrere Mailadressen unter verschiedenen Namen an und ließ die Pakete an unterschiedliche Packstationen liefern und hoffte somit, dass ihre Handlungen, die einiges an Konzentration und logistischer Planung bedurften, nicht zu auffällig wurden. Für einige Zeit ging dieser Maskenball unter dem Motto des Versteckspiels gut, sie verlebte durchaus angenehme und süße Tage, auch wenn es ab und zu vorkam, dass eine beklemmende Nervosität ihr den Nacken hochkroch. Eines Abends jedoch sah sie vor ihrer Wohnungstür zwei Männer stehen, die bei ihr klingelten und obwohl sie keine Uniform trugen, wirkten sie auf eine bestimmte Weise offiziell. Ehe sie sich umdrehte und kehrt machte, erkannte sie den einen der Männer, er war damals, als sie noch zu Schule ging, ihr Schwarm gewesen und sah zumindest aus der Entfernung noch immer unheimlich gut aus. Nur zu gerne wäre sie zu ihm gegangen, hätte sich ihm stolz präsentiert und gefragt, was er mittlerweile so trieb, doch sie wusste, dass dies unsinnig, nein, sogar unmöglich war und dass sie sich den beiden vorerst nicht nähern sollte. Mit hochgestelltem Kragen und einer Sonnenbrille, die fast ihr gesamtes Gesicht bedeckte, stiefelte sie durch die Straßen und überlegte, was nun zu tun war. Bisher war ihr noch immer eine Lösung eingefallen, aber zum jetzigen Zeitpunkt konnte sie nicht mehr deutlich sagen, was der nächste logische Schritt sein mochte. Sie würde es irgendwie alleine aus diesem Schlamassel schaffen müssen, da Penelope Amira von Litzenstein niemanden kannte, an den sie sich wenden und um Hilfe oder Rat bitten konnte. Sie hoffte eindringlich, dass Anna Brathuhn nicht am Ende für diese perlenbestickten und mit Seide gefütterten Fauxpas auf Basis von Katzengold einstehen musste.
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