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Autorenbildgigiewinter

It's been a day

Ein heftiger Stoß brachte Henry aus dem Gleichgewicht. Er stolperte, doch konnte sich wieder auffangen. Die Person, die schnell an ihm vorbeilief, hatte es offensichtlich eilig und ihn in dieser Hektik übersehen.

„Was für ein Rüpel … Vielen Dank, dass Sie mir mit den Einkäufen geholfen haben, junger Mann.“ Die alte Frau drückte sanft Henrys Hände und schenkte ihm ein Lächeln. Ihre Haut war dünn wie Papier und zahlreiche Falten zierten ihr Gesicht.

„Keine Ursache.“ Sie verschwand im Hauseingang und Henry blickte nervös auf seine Armbanduhr. Rasch verließ er das Wohnviertel und marschieret schnellen Schrittes in Richtung der Redaktion. Er würde sich verspäten, so viel stand fest. Das war ihm vorher noch nie passiert. Doch für heute standen keine wichtigen Meetings and und die fremde Frau hatte mit ihren schweren Taschen so aufgeschmissen gewirkt, dass Henry ihre Bitte, ihr beim Tragen zu helfen, nicht ausschlagen konnte. Im Büro angekommen legte er seinen Mantel und seinen Schal ab. Die Halogenröhren in den Lampen über ihm surrten und die Luft roch nach einer Mischung aus kaltem Rauch und Pfefferminze. Henry saß gerade an seinem Schreibtisch und schaltete den PC ein, da hörte er energische Schritte auf dem Boden, die sich zielsicher seinem Platz näherten.

„Henry, kommst du mal bitte mit in mein Büro?“ Kaum hatte Ian DaMonte seinen Satz beendet, machte er auf dem Absatz kehrt. Er war nicht der Typ für Smalltalk und Floskeln, so wunderte es Henry nicht weiter, dass er ein einleitendes Guten Morgen einfach ausließ. Sein Chef rammte beim Gehen dermaßen die Hacken in den Boden, dass Henry befürchtete, er könne jeden Moment ein Loch verursachen. War Henrys Verspätung vielleicht doch der Grund für das im wahrsten Sinne des Wortes harte Auftreten seines Chefs? Unsicher folgte er ihm. Anders als die winzigen Schreibtischbuchten der Mitarbeiter war Ian DaMontes Büro groß und geräumig. Mit Leichtigkeit könnte er eine Sofalandschaft, Kunstgegenstände sowie einen Kühlschrank in dem Raum unterbringen, doch stattdessen verkörperte die Inneneinrichtung minimalistische Monotonie.


„Wie du weißt, ist es zur Zeit nicht recht einfach“, Ian hatte bereits zu reden begonnen, als Henry noch inmitten des Raumes stand. Angespannt rieb sein Chef sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.

„Du passt einfach nicht zu unserem Tempo, unserer Berichterstattung…“ Ian öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und holte einen Zettel hervor. „Hier, in diesem Abschnitt … Dieser lange Bandwurmsatz …“, undeutlich murmelte Ian vor sich hin und fuhr mit dem Finger über das Papier.

„Verdammt Henry, der Satz geht über vier Zeilen! Wie sollen unsere Leser…! Vier!“ Ian stockte, so, als würde er in seinem Kopf nach den richtigen Worten suchen. Henry hingegen war verwirrt. Was genau meinte sein Chef? Kopfschüttelnd seufzte Ian. „Ach Henry, du weißt doch genau, worauf das hier hinausläuft …“. Henry zuckte mit den Schultern.

„Es tut mir leid, dass ich heute etwas später dran bin als sonst, aber …“

„Verdammt Henry! Deine Artikel sind so … lang und … reichhaltig. Dafür hat doch keiner Zeit! Schon gar nicht unsere Leser. Wir brauchen Hektik, Drama!“ Leidenschaftlich schnippte Ian mit den Fingern.

„Am Puls der Zeit, mittendrin. Kurz, knackig, knapp. Aufsehenerregend! Bei dir ist alles so … real, wir aber brauchen mehr Esprit!“

Henrys Texte waren gut recherchiert, sorgfältig ausgearbeitet und bedachten verschiedene Sichtweisen der jeweiligen Themen. All das hätte er seinem Chef sagen können. Doch der Schwall von Ians Worten erdrückte ihn. So, als sei er beim Baden am Strand von einer großen Welle übermannt worden, die ihn daran hinderte, Luft zu holen. Henry war wie gelähmt.

„Wir kommen so nicht weiter, Henry. Am Ende sind andere eben schneller und … besser. Ich denke es ist an der Zeit, dass du die Redaktion verlässt.“ Das Blut in Henrys Ohren rauschte laut. War das eine Kündigung? So einfach, so schnell? Als Ian die Tür öffnete und Henry nach draußen deutete, stand er noch immer ganz verloren im sterilen Büro. Schließlich machte er sich schweigend und nachdenklich auf den Weg. Vielleicht hatte Ian Recht? Vielleicht war er woanders besser aufgehoben und konnte dort sein Potential entfalten? Mit hängenden Schultern nahm er Schal und Mantel. Du musst dir ein dickeres Fell zulegen, dachte er. Diesen Satz hatte er seit seiner Kindheit immer wieder gehört. Also gab er sich alle Mühe erhobenen Hauptes das Gebäude zu verlassen, obwohl er deutlich spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten.

Die Sonne schien Henry ins Gesicht, als er draußen vor der Redaktion stand und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Der Blumenladen auf der anderen Straßenseite brachte ihn auf die Idee, dass er Liz einen Überraschungsbesuch abstatten konnte. Heute war ihr freier Tag und Liz hatte immer viele gute Ideen. Genau das, was Henry gerade gebrauchen konnte. Gerade, als er die frischen Blumen an der Kasse bezahlen wollte, spürte er eine erschreckende Leere in seiner rechten Gesäßtasche. Hier war sein Portemonnaie nicht. Rasch verließ er das Geschäft wieder, ohne Blumen, und hastete zurück zur Redaktion. Vielleicht hatte er seinen Geldbeute in der ganzen Aufregung dort vergessen. Doch auch die Untersuchung seines (ehemaligen) Arbeitsplatzes und die Befragung seiner (ehemaligen) Kollegen blieben erfolglos. Sein Portemonnaie war auch nach geraumer Zeit nicht aufzufinden, also beschloss Henry, seine Karten vorsichtshalber sperren zu lassen. Sein Mobiltelefon hatte er glücklicherweise noch.

„Hallo, ist da der …?“, begann er, als er bemerkte, dass eine Computerstimme mit ihm redete.

„… dann drücken Sie die 3. Bitte nennen Sie mir die IBAN der Karte, die Sie sperren möchten“. Sollte das ein Witz sein? Wer kannte denn seine IBAN auswendig? Henry stöhnte angestrengt und beendete das Gespräch. Stattdessen rief er Liz an. Sie würde ihm weiterhelfen können. Teilnehmer besetzt.


Frustrierte steckte Henry sein Telefon zurück in die Tasche. Schnellen Schrittes bewegte er sich durch die Innenstadt. Liz wohnte viel näher an der Redaktion als er selbst, also steuerte er geradewegs ihre Wohnung an. Während er so ging, erinnerte er sich an den Zusammenstoß mit der fremden Person heute Morgen. Ja, sein Portemonnaie war wohl definitiv gestohlen worden.

Bereits einige Meter vor dem Hauseingang bemerkte Henry die neugierigen Blicke einer älteren Dame. Die Frau wohnte im selben Haus und direkt gegenüber von Liz. Sie stand auf ihrem Balkon und wirkte so, als sehe sie nach dem Rechten.

„Müssen Sie denn gar nicht arbeiten?“, blökte sie Henry von oben herab an. „Tse Tse, die Jugend von heute. Das ist doch Hopfen und Malz…“

Der Türsummer sprang an, Henry betrat den Hausflur und beachtete die meckernde Frau nicht weiter. Vielleicht hatte sie bisher ebenfalls keinen guten Start in den Tag gehabt.

„Sie sind aber schnell. Wir haben doch gerade erst bestellt, ich dachte …“

Henry erstarrte, als er auf der vorletzten Stufe zu Liz’ Wohnung stand. Seinem Gegenüber ging es genauso. Ein gehauchtes Oh war als Einziges zu hören. Im Türrahmen stand nicht Liz. Es war auch keine ihrer Freundinnen, mit denen sie gerne Kaffee trinken oder Bouldern ging. Vor Henry stand ein großer, gut gebauter Mann. Nicht gerade hässlich, ja, das musste er zugeben.

„Sie sind nicht der Lieferservice?“, fragte der Fremde skeptisch. Henrys Mund war staubtrocken. Nein, der war er nicht.

„Doug, was dauert da so lange?“, Liz Stimmte schallte aus der Wohnung in den Hausflur. Nur wenige Augenblicke später stand sie neben dem ansehnlichen Adonis.

„Was…? Henry? Was machst du denn hier?“, fragte sie und zog verwirrt ihre Augenbrauen in die Höhe.

Was macht dieser tolle, durchtrainierte Typ in deiner Wohnung?, hätte Henry am liebsten gefragt. Trinkt ihr jetzt den ganzen Tag zusammen grüne Smoothies? Doch er blieb stumm. Verlegen hüstelte er, schaute abwechselnd zum Boden und zur Decke.

„Seid ihr …?“ Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen und merkte bereits, wie erneut Tränen in seine Augen stiegen. Liz seufzte.

„Ja, Henry. Es… es hat sich einfach so ergeben.“ Noch immer konnte Henry seiner Freundin, Ex-Freundin, nicht in die Augen schauen. Wie konnte sie ihm das nur antun? Und konnte jemand mal diesen Sunny Boy da beiseite schaffen, damit er ungestört mit ihr reden konnte? Er schluckte schwer.

„Ja gut … Ich wollte auch … Eigentlich … Also, hast du zufällig irgendwo meine IBAN notiert?“

Liz sah ihn entgeistert an. „Oh mein Gott, Henry! Du brauchst dich auch wirklich nicht zu wundern! Du erfährst gerade, dass ich dir nicht treu bin und das einzige was du tust, ist mich nach deiner dämlichen IBAN zu fragen? Das ist mal wieder so typisch für dich! Statt hier mal Haltung zu zeigen, oder irgendeine Reaktion! Wie kannst du nur so … verdammt konturlos sein!“ Ihre Worte trafen Henry schwer und mitten ins Herz. So schnell, wie sie ihm um die Ohren flogen, konnte er gar nicht reagieren.

„Ja … mein Portemonnaie wurde gestohlen und …“, Liz hatte sich umgedreht und war wieder in ihrer Wohnung verschwunden. Das Rascheln von Papier deutete darauf hin, dass sie in ihren Unterlagen nach Henrys IBAN suchte. Währenddessen stand noch immer dieser Schönling vor ihm und musterte ihn mitleidig.

„Ich bin übrigens Doug“, sagte er und reichte Henry die Hand. Noch bevor Henry auf diese groteske Geste eingehen konnte, war Liz mit einem Zettel zurückgekehrt, auf den sie die Nummer notiert hatte.

„Hier. Wenn es dir nichts ausmacht, wäre es ganz nett, wenn du jetzt verschwindest. Für Heute hast du genug Chaos angerichtet.“ Deutlich hörbar schlug Liz die Tür zu.


Du musst dir ein dickeres Fell zulegen. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Kalendersprüche rasten durch Henrys Gedanken. Die soeben erlebte Szene erschien ihm wie ein schlechter Traum. Noch immer stand er wie angewurzelt im Treppenhaus.

„Na, die hat Sie aber ganz schön abserviert.“ Die alte Frau, die Henry vom Balkon aus beobachtet hatte, hatte inzwischen ihre Wohnungstür geöffnet. Offenbar hatte sie das gesamte Gespräch belauscht. Mit verschränkten Armen und einem zynischen Grinsen blickte sie durch ihre dicken Brillengläser zu Henry. Was geht Sie das an?, dachte er. Kümmern Sie sich um ihren eignen Kram. Doch er wandte sich zum Gehen und beschloss, nicht auf diese dreiste Anmerkung einzugehen.

„Ich habe sie nicht verstanden“, antwortete der Computer, dem Henry die Ziffern seiner IBAN nannte. Viel mehr schrie er sie, sodass die gesamte Fußgängerzone sie nun kennen müsste. Doch das System konnte seine Worte offensichtlich nicht auf Anhieb verarbeiten. Es dauerte zahlreiche Versuche, bis Henry endlich Erfolg hatte. Er hatte nicht genau darauf geachtet, wohin er ging und war inzwischen in einem netten Stadtteil voller Cafés und Restaurants angekommen. Henry hatte Hunger. Aber er hatte kein Geld, keinen Job und keine Freundin mehr. Was konnte man alles an nur einem Tag verlieren? Sollte er lieber nach Hause gehen und diesen Tag abwarten, bevor er noch durch merkwürdige Umstände … starb? Nein, das könnte ja auch in der Wohnung passieren. Oder seine Wohnung war bereits … abgefackelt zum Beispiel, sodass er auch diese nicht mehr hatte. Er wollte es lieber gar nicht erst wissen. Er wollte nicht nach Hause. Henry tippte auf das Display seines Handys. Doch während der Versuche, seine Karten zu sperren, war der Akku des Telefons leer gegangen. Leer. So fühlte sich Henry auch irgendwie.


War der heutige Tag die logische Konsequenz seines Wesens? Von vielen Seiten wurde ihm immer wieder gesagt, dass er lauter, bestimmter und durchgreifender werden musste. Doch Henry war eben Henry. Während er so darüber nachdachte, beobachtete er eine ältere Frau auf der anderen Straßenseite, die ihm bekannt vorkam. Neben ihr ging ein Mann in Anzug, der offenbar ihre Einkaufstaschen trug. War das nicht …? Henry wurde skeptisch. Er kniff die Augen zusammen, um die Person genauer fokussieren zu können. Ja, das war sie! Gleichzeitig sah er, wie sich von der linken Seite ein Mann mit Sonnenbrille und tief ins Gesicht gezogener Kapuze nährte. Der Kapuzenmann rammte den Anzugträger, während dieser mit der alten Frau beschäftigt war. Das alles geschah in einem Bruchteil von Sekunden. In enormer Geschwindigkeit rannte er Kapuzenmann weg vom Anzugträger. Er kam immer näher auf Henry zu. Henry überlegte, ob er irgendwie helfen konnte. Doch er konnte nicht sonderlich schnell rennen und falls er sich in einen Faustkampf verwickeln sollte, wusste er, dass er den Kürzeren ziehen würde. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, sich zu entscheiden. Er könnte das Geschehen auch einfach ignorieren, schließlich war er eigentlich gar nicht involviert.

Du musst dir ein dickeres Fell zulegen. War das tatsächlich so? Henry schloss die Augen. Der Kapuzenmann war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Er fühlte sich hilflos und überfordert. Wie lange blieb ihm noch? Drei Sekunden, vielleicht zwei. Tu etwas!, befahl er sich. Aber was? Noch eine Sekunde, und… Mit einem lauten Aufschrei fiel der Kapuzenmann auf den Boden. Das gestohlene Portemonnaie segelte aus seinen Händen und blieb dicht neben Henrys Füßen liegen. Der Kapuzenmann jaulte auf, fluchte und rappelte sich so schnell er konnte wieder auf und ergriff die Flucht. Von der alten Dame fehlte jede Spur. Henry bückte sich und sammelte den Geldbeutel ein.

„Das war ja fantastisch!“, der Mann in Anzug kam auf ihn zugelaufen.

„Wie konnten Sie nur so schnell reagieren? Und diese geniale Idee, dem Dieb einfach ein Bein zu stellen.“ Henry atmete tief durch. Eigentlich hatte er nur auf seine Intuition vertraut. Wie von selbst hatte sein Bein die richtige Position gefunden, die dem Räuber zum Verhängnis wurde. Dankbar klopfte der Mann ihm auf die Schulter.

„Sie haben mir den Tag gerettet! Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“


***

Dieser Tag war mittlerweile genau ein Jahr her. Henry schrieb gerade an den letzten Sätzen seines neusten Artikels. Ja, manche dieser Sätzen waren sehr lang. Doch er machte sich keine Gedanken mehr darüber. Schließlich hatten auch diese langen Sätze ihn genau dahin gebracht, wo er jetzt war.

„Kaffee ist gleich fertig!“, Sams Stimme drang durch das Fenster auf den Balkon.

„Ich komme sofort“, seitdem Henry den Diebstahl von Sams Portemonnaie verhindert hatte, waren die beiden zu besten Freunden geworden. Sam war Verleger und erkannte sofort viel mehr in Henrys Texten, als Ian DaMonte jemals zugegeben hätte. Mit Bedacht tippte Henry die letzten Worte.

Menschen geben oft und viele Ratschläge. Du musst dir ein dickeres Fell zulegen. Merke dir deine IBAN. Doch wenn man mich fragen würde, was wirklich zählt wäre meine Antwort: Lass dich nicht verändern. Vertraue auf dich selbst.

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