Vor einigen Jahren konnte das Meiste noch durch Selbstoptimierung erreicht werden. Inzwischen ist dieses Wort durch ein neues ersetzt worden: Alles Mögliche beruht auf dem richtigen Mindset.
Du hast Höhenangst? Mit dem richtigen Mindset kannst du diese überwinden. Du möchtest in einem Monat super sportlich und durchtrainiert sein? Das lässt sich problemlos mit dem richtigen Mindset erreichen. Deine Lebensträume scheinen realitätsfern und unerreichbar? Ändere dein Mindset und sie werden wahr. Nicht die Umstände bestimmen die Realität, sondern deine Art, mit ihnen umzugehen.
Wenn ich mittlerweile das Wort Mindset höre oder lese, stellen sich meine Nackenhaare auf und ich möchte ohne Umwege die Flucht ergreifen. Sollte ich etwa dahingehend mein Mindset ändern und positiv gestimmt toxischen möchtegern-Motivationssprüchen entgegenviben? Nein, die kleine Nö-Sagerin in mir möchte viel lieber verdeutlichen, wo genau mein Schuh in Bezug auf diese Thematik drückt. Allgemein gesagt stecken hinter Mindset-Äußerungen für mich lediglich leere Kalendersprüche, fehlende Alternativen und eine Loslösung von der Realität. All diese Faktoren führen zu einer Verinnerlichung von toxischer Positivität. Das lässt sich wunderschön an einem Beispiel verdeutlichen.
Don’t be scared to rock alone. The sun is alone everyday and still shines.
Erstens, was zum Teufel? Zweitens, kann mein Gehirn nicht anders als sich vorzustellen, wie dieser Satz in bunten Buchstaben in einem durch Corona zwangsisolierten Pflegeheim hängt. Da wirkt der gut gemeinte Motivationsspruch dann doch eher zynisch. Aber auch in anderen Lebenslagen lässt sich durchaus an der Notwendigkeit dieser Aussage zweifeln. Und das schreibe ich, ein Mensch, der durchaus gerne alleine ist und seine Allein-Zeit regelrecht zum Batterieaufladen benötigt. Woran ich mich an Sprüchen dieser Art störe ist die Tatsache, dass sie ausschließlich positive Emotionen zulassen. Du bist gerade viel alleine? Geh positiv an die Sache, du bist wie die Sonne. Du bist deine eigene Sonne, du wärmst und nährst dich selbst, du brauchst nichts und niemanden. Du gehst durch eine allgemein schwere Zeit? Auch das ist positiv, denn nur im Schmerz können wir an Situationen wachsen. G R O W T H. Genieße den Schmerz.
Wo sind denn da all die anderen tollen Emotionen, die ich noch haben kann? Ich bin aus verschiedenen Gründen gerne mal stinksauer, wütend, melancholisch oder auch tieftraurig. Warum soll ich mein Mindset so umkrempeln, mich selbst belügen, dass alles stets nur aus einer positiven Brille gesehen werden kann. Schließlich haben auch alle anderen Emotionen und Gefühlslagen eine Daseinsberechtigung, sind Teile von uns Menschen und können Quellen für neue Energie sein. Oder man will einfach nur wütend sein, basta!
When you can go alone to the cinema or a restaurant, you can achieve anything in life.
Auch son Spruch. Ja, ich verstehe was dahintersteckt. Viele Menschen trauen sich alleine bestimmte Dinge nicht, weil sie sich merkwürdig dabei vorkommen. Und es wäre schade, nur aus diesem Grund diese Dinge zu verpassen. Eine kleine Bestärkung, vielleicht auch der Hinweis, dass dieses Gefühl ein nicht seltenes Phänomen ist, kann ich ja noch verstehen. Aber: you can achieve anything in life? Come on! Das ist einfach nur nonsense, eine komplette Verleumdung von Tatsachen und reiner Blödsinn. Hey, ich sitze alleine im Kino, endlich wird es was mit dem Literaturnobelpreis! Ich bin mir unsicher, ob sich diese beiden Inhalte derart miteinander verknüpfen lassen und sich in dieser Art und Weise auf einander beziehen, dass Szenario A Szenario B bedingt. Sie können durchaus im Leben eines Menschen vorkommen und vielleicht halten einige meine These für gewagt: Ich denke nicht, dass ein Single-Restaurantbesuch der Grund für lang ersehnte Erfolge im Leben ist. Vielleicht fühlt man sich anschließend gut, vielleicht bekommt man einen Selbstbewusstseins-Schub, aber mit manchen Versprechen wäre ich dann doch eher vorsichtig und würde ganz gerne die Kirche im Dorf lassen.
Was ist meine Schlussfolgerung zu diesen Mindset-Mantras? Wenn wir zu sehr an gefährlich positiven Glaubenssätzen festhalten, die kein „Aufgeben“ oder keine negativen Emotionen zulassen, die von der Realität entfremdet scheinen, driftet das ganze für mich in eine unschöne Richtung ab. Immer nur muss ich aushalten, durchziehen, dranbleiben, weiter lächeln, weiter arbeiten, weiter wachsen. Wo ist hier Platz für: Das tut mir nicht gut oder das möchte ich nicht mehr. Bin ich dann ein Quitter?
Auch ich habe viele Dinge in meinem Leben durchgezogen, habe gekämpft und mir alles selbst erarbeitet. Doch es gab auch Momente, in denen ich gesagt habe: Ich kann das nicht mehr. Und es war gut, diesen Dingen den Rücken zu kehren. In diesen Situationen war ich mehr als froh, kein positives Mindset in mir zu haben, dass mir suggeriert: Du brauchst bloß die richtige Einstellung, dann wird alles gut. Manchmal wird nicht alles gut. Und in diesen Phasen hindert mich eine „richtige Einstellung“ (unter der nur eine positive verstanden wird) daran, Zugang zu meiner wahren Gefühlswelt zu haben. Ich würde mich selbst belügen und so etwas wie „Alles im Leben hat einen Sinn“ sagen. Nein. Manches ist einfach nur scheiße.
Als runder Abschluss folgt nun ein Mindset-Mantra aus dem Gigi-Kosmos: Heute trage ich eine Hose, die mir seit 5 Jahren zu klein ist. Mit dem richtigen Mindset habe ich letztendlich reingepasst.
Leider ändert mein Mindset hier gar nichts. Aus der Sanduhren-Figur ist zunehmend eine Standuhren-Figur geworden, doch Body-Positivity/Body-Neutrality soll in diesem Beitrag vorerst keine Rolle spielen. Aber dieses Bild verkörpert zu schön meine Gefühlslage gegenüber Mindset-Mantras: Egal was ich denke, visualisiere oder versuche zu fühlen, die Hose wird nicht passen. Und habe ich mich doch irgendwie reingequetscht, fühle ich mich alles andere als wohl und komme mir vor, als habe ich mich in ein System gepresst, in das ich nicht gehöre. Vielleicht geht das alles sogar eine Weile gut, doch wenn ich mich ein bisschen bewege (oder, Gott bewahre!, hinsetze), werde ich keine Luft mehr bekommen, dafür aber Bauchweh, vielleicht fliegt der Knopf in wilden Bögen durch den Raum, ich bekomme schlechte Laune und schließlich klaustrophobische Zustände und damit verbundene Panik, die Feuerwehr anrufen zu müssen, die mich aus dem engen Kleidungsstück in einem Rettungsmanöver herausschneiden muss.
Eins steht fest, ich will alles andere als Träume zerstören. Aber manchmal tut mir ein bisschen mehr Realität und ein bisschen weniger positive only ganz gut.
Bis dahin, Gigi
Comentarios