Neulich habe ich in einem meiner Philosophiebücher geblättert und gestöbert, bis ich dort auf die Tabelle der Grenzsituationen nach Karl Jaspers (1883-1969) gestoßen bin:
Geschichtlichkeit
Ich lebe in dieser Zeit mit bestimmten Anlagen, Möglichkeiten und Grenzen.
Ich muss die Einmaligkeit meines Selbst ergreifen.
Tod
Die Endlichkeit des Lebens stellt alle Sinngebungen in Frage.
Ich muss mich entscheiden, was mir angesichts des Todes wesentlich ist und was nicht.
Leiden
Es gibt kein vollkommenes Glück. Das Scheitern gehört zum Menschsein.
Ich muss auch im Scheitern zu mir selbst finden.
Kampf
Ich beanspruche meinen Platz in der Welt, so wie ihn jeder andere beansprucht.
Ich muss meinen Lebensweg in der Polarität von eigenen Interessen und denen der anderen finden.
Schuld
Jedes Handeln schließt die Möglichkeit des Schuldigwerdens ein.
Ich muss Entscheidungen treffen, auch wenn es keine letzte Gewissheit gibt.
Quelle: Franz-Peter Burkard, Richard Geisen: Grundwissen Philosophie Im Grunde sind die vermerkten Szenarien so nachvollziehbar wie plausibel, dass man meinen möchte, eine Auseinandersetzung mit diesen finde ohnehin im Unterbewusstsein statt. Nach einer längeren Beschäftigung mit dem angeblich Offensichtlichen haben sich mir dennoch einige Widersprüche zu derzeit verankerten Grundsätzen aufgetan, die ich in diesem Text ergründen und hinterfragen möchte.
„Ich lebe in dieser Zeit mit bestimmten Anlagen, Möglichkeiten und Grenzen.“
Ich begann daran zu zweifeln, dass zumindest in den Köpfen meiner Generation diese Aussage derart verinnerlicht ist. Mittlerweile scheint diese nämlich in „Ich lebe in dieser Zeit mit bestimmten Anlagen und Möglichkeiten, ohne Grenzen“ umformuliert worden zu sein. Jeder kann alles schaffen, nichts ist unmöglich und Phrasen wie träume nicht dein Leben sondern lebe deinen Traum sind diejenigen Mantra, die heutzutage gelten und von denen sowohl Motivation als auch Inspiration ausgehen. Versteht mich nicht falsch, ich bin an sich ein Fan davon, das Glück beim Schopfe zu packen und nach einem Köpper durch die Wand auch mal gegen den Strom in Richtung Selbstverwirklichung zu schwimmen, aber ich habe inzwischen das Gefühl, als werde man zunehmend von utopischen Zielvorstellungen geblendet und als ginge von eben diesen ein immenser Druck aus. Durchaus finde ich die Orientierung an optimistischen Grundgedanken äußerst lobenswert und denke, dass Großartiges oder Bewegendes geschaffen werden kann, wenn der Wille da ist und trotzdem vermisse ich bei all dieser Euphorie ein kleines aber dennoch ausschlaggebendes Detail: die Beachtung der Grenzen. Wenn ich partout nicht singen kann und auch nach noch so vielem Üben das quäkende Knatschen meiner Stimme für Gänsehaut der negativen Art und allgemeines Unwohlsein meiner Mitmenschen sorgt, werde ich niemals als Sängerin mein Heimatland beim Eurovision Songcontest vertreten. Wenn ich das Lesen von trockenen Sachtexten, die Arbeit am Schreibtisch und das Auswendiglernen von Gesetzen und Paragraphen hasse, werde ich wohl niemals ein erfolgreiches Jurastudium abschließen. Und wenn ich verdammt nochmal nur 1,65m groß bin, wird es mit der internationalen Modelkarriere echt schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Persönliche Fähigkeiten, Wesenszüge und Eigenschaften können das genaue Gegenteil von den Anforderungen beispielsweise eines Berufsfeldes sein, was nicht gleich heißen muss, dass die jeweilige Person eben dieses ad acta legt und für sich ausschließt, da trotzdem der Wunsch herrschen kann, genau dort, wo man eigentlich gar nicht reinpasst und wo andere einen nie gesehen hätten, Fuß zu fassen. Schließlich kann ja auch jeder alles schaffen und mit harter Arbeit und einem ungebrochnen Willen können so manche Wunder geschehen.
Ja, zunächst stimme ich dem noch zu. Man sollte nichts unversucht lassen und alles mögliche ausprobieren, um herauszufinden, was die Welt für einen bereithält. Immerhin gibt es in zahlreichen Branchen sogenannte Ausnahmen. Aber jetzt mal Butter bei die Fische, in Karl Jaspers Tabelle ist ebenfalls folgende Aussage vermerkt: „Es gibt kein vollkommenes Glück. Das Scheitern gehört zum Menschsein.“ Es ist niemals ausgeschlossen, dass ich trotz all meiner Bemühungen und Anstrengungen mein Ziel nicht erreiche und dementsprechend erfolglos bleibe. Dieser negative Ausgang einer Traumverwirklichung besteht bereits so lange es Menschen gibt, generell sollte diese Tatsache also nichts Neues sein. Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich seit einigen Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten, diese entscheidende Komponente verschoben und verändert hat. Zwar herrschen heute allein durch das Internet ganz andere Rahmenbedingungen und Möglichkeiten, sich selbst und die eigenen Ideen zu verwirklichen und vermarkten und auch durch das Bildungssystem ist es auf Umwege möglich, einen immer höheren Abschluss zu erlangen, aber was ist, wenn ich trotz all dem doch scheitern sollte? Wenn es keine Grenzen mehr gibt und ich doch alles schaffen kann, würde das bedeuten, dass ich versagt habe, dass ich mich nicht genug angestrengt habe, dass ich nicht hart genug für meine Ziele gearbeitet habe. Der an sich so optimistische, euphorische und positive Leitgedanke wird dann immer mehr zu einem Instrument, das Druck aufbaut, Perfektion verlangt und mich unaufhörlich immer härter gegen äußere Umstände, aber vor allem gegen mich selbst ankämpfen lässt. Es wird angefangen, sich mit anderen zu vergleichen und allein durch die sozialen Medien ist dies einfacher als jemals zuvor. Warum bekommen andere alles hin und dann auch noch gleichzeitig? Ich sehe perfekt trainierte Körper von supersüßen Pärchen, die sich in der Sonne der Malediven aalen (oder auch Thailand, Thailand ist voll das Ding!), immer bestens gekleidet und gestylt sind (#Markenkennzeichnung), Cocktails im super hippen fancy Hotelkomplex schlürfen und es dabei auch noch schaffen, Studiengang für Studiengang zu absolvieren. Wie schlimm fühle ich mich dann nur, wenn man da nicht mithalten kann? Herrscht wirklich ein derartiger Konkurrenzkampf, mit einer gefilterten Wahrheit zu beweisen, was für ein toller Mensch man ist und was für ein tolles Leben man hat? Leider habe ich das Gefühl, dass es stimmt. Wenn man erst in dieser Mühle von Inszenierungen gelandet ist, wird es immer schwieriger, diese reflexiv zu betrachten und beurteilen und nicht hart zu sich selbst zu werden, schließlich ist doch alles möglich, also warum nur auf einer Hochzeit tanzen, wenn man doch auf sechs anderen noch DJ, Caterer und Fotograph sein kann? Plötzlich ist man überall am Start, zugegebenermaßen wird es ja auch irgendwie von der Gesellschaft verlangt, alles zu machen und dann auch noch alles außerordentlich gut und wenn ich mitmischen will, dabei bleiben will, dann muss ich mich ranhalten. Ich ignoriere den Schwindel, ich hab ja nur ein bisschen zu wenig geschlafen, dieses Piepen im Ohr hat doch auch irgendwie jeder und das nervöse Zucken… das geht schon wieder weg. Schließlich kann jeder alles schaffen und ich darf ein Scheitern nicht annehmen.
Was wäre also nun mein Ansatz, wieder aus diesem Teufelskreis der Selbstoptimierung herauszufinden? Als erstes möchte ich Akzeptanz nennen. Es ist ok, wenn ich einen Beruf gefunden habe, in dem ich mich wohlfühle und in dem ich bleiben möchte, auch wenn andere mir sagen, dass ich noch so vieles erreichen könnte. Es ist ok, das Glück in der Heimat zu suchen und auf das allgemeine Weltenbummlertum zu verzichten. Es ist ok, wenn ich auf die Zeichen meines Körpers und meiner Seele höre, da nur sie mir sagen können, wann ich eine Pause brauche oder wann ich mich mit voller Kraft in das nächste Abendteuer, in die nächste zehrende Aufgabe, Prüfung oder was auch immer stürzen kann.
Zusätzlich wäre es vielleicht eine hilfreiche Idee, nicht mehr davon auszugehen, dass jeder alles schaffen kann, sondern, dass jeder alles versuchen kann. Ein Gelingen oder Misslingen des jeweiligen Versuchs hinge dann von einer Vielzahl von Faktoren ab. Wenn ich nie zur Vorlesung gehe, nicht lerne und dann die Klausur verkacke, liegt die Ursache dafür auf der Hand und höchstwahrscheinlich bin allein ich selbst verantwortlich. Nichtsdestotrotz wird es unzählige Situationen geben, in denen ich nicht an meinen eigenen Kompetenzen oder Fähigkeiten zweifeln sollte und in der auch sonst kein Schuldiger zu suchen ist, sondern ein Scheitern schlichtweg hingenommen werden muss.
Darüber hinaus ist es genau so wichtig, sich selbst zu kennen: Was spornt mich an und was zieht mich runter, unter welchen Bedingungen laufe ich zur Höchstform auf und wann verliere ich mich selbst, wo sind meine seelischen und körperlichen Grenzen? Mit einem solchen Wissen über das eigene Ich ist man meiner Meinung nach auf einem guten Weg, die beste Version von sich selbst zu werden. Immerhin sollte es nicht immer um das Perfekte und Optimale, dieses nervige Nonplusultra gehen, ab welchem Zeitpunkt ist normal eigentlich schlecht geworden? Kein Ziel ist zu groß, keines aber auch zu klein. Es soll wieder phänomenal, toll und großartig werden, die eigenen Ziele zu erreichen, egal, was genau diese beinhalten. Denn der, der das vergleichbar leise eigene Herz in einem Durcheinander von hektischem Stimmengewirr aus Ratschlägen, Angeboten und Anforderungen noch hören kann, ist deutlich im Vorteil. Wir sind alle verschieden und das ist unsere größte Stärke.
Ich muss die Einmaligkeit meines Selbst ergreifen.“
Comments