„So rau ist die See selten im September.“ „Mhm, stimmt“, Agnes antwortete Winfried noch während sie von ihrer Stulle abbiss. Sie und ihr Mann hatten es zu einer liebgewonnenen Routine werden lassen, jeden Freitagnachmittag mit ihrem Rauhaardackel Friedrich einen ausgiebigen Strandspaziergang zu machen und anschließend eine erholsame Pause mit leckeren Knabbereien auf stets derselben Bank zu genießen. Für gewöhnlich brachten sie Kaffee, belegte Brote, Kekse oder Ähnliches von zu Hause mit und ließen den vollgefüllten Korb samt Thermoskanne vorerst im Kofferraum ihres Autos, ehe sie ihr ganz persönliches Lieblingsplätzchen aufsuchten. Nur dann, wenn das Wetter durch starken Regen oder beißende Kälte es kaum möglich machte, sich draußen länger als nötig aufzuhalten, statteten sie dem an der Promenade gelegenen Café einen Besuch ab, in dem zum Glück auch Friedrich ein gern gesehener Gast war und durch dessen bis zum Boden gehenden Fenster man einen ebenso guten Blick auf das Meer hatte, wie von der Bank aus. Eine Weile lang herrschte eine schmatzende und Kaffee schlürfende Stille zwischen den beiden und auch Friedrich hatte sich müde und erschöpft unter der Bank zusammengerollt. Es war Agnes, die sich nach einiger Zeit zu Wort meldete. „Hoffentlich wird der Herbst nicht so nass wie letztes Jahr … Wir sind zwar gut ausgerüstet mit Regenmantel und Gummistiefeln, aber irgendwann ist ja auch mal gut.“ „Ach Agnes, mit dir zusammen blicke ich immer einem goldenen Oktober entgegen,“ bei dieser Bemerkung konnte Winfried ein Kichern nicht unterdrücken und bekam sogleich die zwickenden Finger seiner Frau in seinen Rippen zu spüren. „Sei nicht albern, Winfried! Du bist Mathematikprofessor und kein Geschichtenerzähler der Romantik.“, wies sie ihn schnalzend zurecht. „Nein, das wäre zugegebenermaßen eher dein Spezialgebiet. Wobei ich trotzdem weiß, dass in der Romantik stets Bezüge zur Natur hergestellt wurden.“ Winfried trank einen weiteren Schluck Kaffee und grinste verschmitzt, während Agnes kopfschüttelnd mit den Augen rollte. „Ein schön kalter Winter und weiße Weihnacht, das wäre himmlisch!“, sagte Agnes mit vor Freude erhelltem Gesicht und es machte den Eindruck, als würde sie im Geiste bereits die verschiedenen Rezepte für das bevorstehende Festessen durchgehen. „Das wäre natürlich die Kirsche auf dem Sahnehäubchen“, entgegnete Winfried, „ich wäre allerdings schon vollkommen zufrieden, wenn alle Kinder rechtzeitig nach Hause kämen und sich mit uns um den wärmenden Kamin gesellten, statt sich von irgendwelchen Nichtigkeiten ihres Arbeitgebers davon abbringen zu lassen.“ „Da hast du recht, Winfried. Aber sei nicht so hart zu ihnen. Du weißt doch, wie es heutzutage in der Arbeitswelt zugeht.“ „Schlimm ist das!" Wieder herrschte für einen Augenblick Schweigen zwischen den beiden, nur das Brausen des Meeres und die Rufe der Möwen waren zu hören. „Nach einem zehrenden Winter freue ich mich auf die wohltuende Frühlingssonne, die alles wieder zum Leben erweckt“, durchbrach Agnes die Stille. „Wohl war…“, stimmte Winfried ihr zu. „Und wenn dann zu unserem alljährlichen Sommerfest im Garten laue Temperaturen herrschen und wir mit Freunden bis in die späten Stunden unter freiem Himmel draußen sitzen können, ist alles perfekt.“ Zufrieden lächelte Agnes den tosenden Wellen entgegen. Sie war sichtlich entzückt bezüglich der unterschiedlichen bevorstehenden Ereignisse, die durch den Wechsel der Jahreszeiten ermöglicht wurden. Winfried nickte stumm und brauchte einen Moment, ehe er seine Gedanken offenbarte. „Erinnerst du dich noch an das Jahr, als uns beinahe das Gartenzelt weggeflogen wäre? Das Wetter in jenem Sommer war generell unbeständig, aber mit solch einem plötzlichem Sturm hat an diesem Abend niemand gerechnet.“ Agnes lachte auf. „Wie könnte ich das nur vergessen? Es war das reinste Chaos!“ „Nicht wahr? Wir haben bei starkem Wind und Gewitter zu viert das Zelt festgehalten, haben irgendwie versucht es abzubauen und ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, als würde ich jeden Moment samt der Plane in die Luft gerissen und auf nimmer wiedersehen fortsegeln.“ „Ihr wart heldenhaft und mutig!“, räumte Agnes anerkennend ein. „Außerdem konnten wir kaum etwas von dem draußen angerichteten Essen retten … Ich glaube, das Meiste haben sich Friedrich und die Katzen geholt, ehe es durch das Unwetter quer im Garten verteilt wurde.“ „Oh ja, aber hungern mussten wir trotzdem nicht. Wir haben uns nicht unterkriegen lassen und den Köstlichkeiten nachgeweint, sondern Pizza bestellt.“ „Eine der besten Pizzen, die ich je gegessen habe! Zum Aufwärmen habe ich für uns alle Tote Tante zubereitet.“ „Ja und du hast den übrigen Glühwein vom vergangenen Winter aus dem Keller geholt, sodass die Atmosphäre immer kuscheliger wurde.“ „Als wir uns dann alle von dem Schock und der Aufregung erholt hatten, haben wir die Wohnzimmermöbel beiseite geschoben und die halbe Nacht lang zu unseren Lieblingsplatten getanzt … Es war einfach magisch.“ Winfried konnte dieses ganz besondere Funkeln in Agnes Augen erkennen, das immer in ihnen lag, wenn sie zutiefst gerührt war oder sich von ganzem Herzen freute. Für einige Zeit versanken beide in diesen gemeinsamen Erinnerungen und lachten über allerlei herrliche Augenblicke. „Magisch, da hast du recht. Also brauchen wir vielleicht nicht unbedingt einen traumhaft warmen Sommer oder einen zauberhaft kühlen Winter?“ „So betrachtet …“, Agnes zögerte und sprach nicht direkt weiter, da ihr die richtigen Worte fehlten. Winfried nahm ihre Hand „Komme, was kommen möge. Wir haben doch schon etliche Dürren, Stürme und Überschwemmungen überstanden. So leicht haut uns nichts um. Wenn wir zusammen sind, können wir alles durchstehen. Jeder Tag, egal wie das Wetter ist, ist der schönste, solange wir uns haben und von Liebe, Freundschaft und Zusammenhalt umgeben sind.“ Agnes war sprachlos. Ihr Mann sagte all dies mit der nüchternen Logik und Überzeugung eines Mathematikprofessors, während sie spürte, wie ihre Augen sich mit Sturzbächen der Rührung füllten und ihr das Wort abschnitten. Sie konnte nichts antworten, stattdessen lehnte sie den Kopf gegen seine Schulter und versank in seiner schützenden Umarmung. Er war ihr lang ersehnter Regen während einer unerträglichen Dürre. Er war ihr Sturm, wenn sich sonst kein Lüftchen regte und die Segelboote sich in dieser Flaute keinen Millimeter zu bewegen vermochten. Er war ihre erfüllende Wärme, wenn das Leben durch unerbittliche Kälte unmöglich schien. Er war alle Wetter vereint und immer genau das, was sie brauchte.
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